Matriarchatspolitik

Rede von Heide Göttner-Abendroth auf dem 1. MATRIFORUM in Berlin, 11. September 2021

Matriarchate sind keine Umkehrung des Patriarchats, wo Frauen über Männer herrschen – wie es das allgemeine Missverständnis will. Matriarchate sind mutter-zentrierte Gesellschaften, und sie beruhen auf mütterlichen Werten: Nähren, Pflegen, Fürsorge, Mütterlichkeit, gegenseitige Unterstützung, Friedenssicherung durch Verhandeln, usw. Diese Werte gelten für alle, für Mütter und Nicht-Mütter, für Frauen und Männer gleichermaßen. Matriarchale Gesellschaften sind bewusst auf mütterlichen Werten und mütterlicher Arbeit aufgebaut, deshalb sind sie weitaus realistischer als Patriarchate. Denn sie sind prinzipiell bedürfnisorientiert und nicht machtorientiert. Ihre Leitlinien zielen darauf ab, die Bedürfnisse aller Menschen am vorteilhaftesten zu erfüllen. Auf diese Weise wird Mutterschaft als biologische Tatsache in ein kulturelles Modell verwandelt.

 

Dies ist das Thema der Modernen Matriarchatsforschung, die matriarchale Gesellschaften in Vergangenheit und Gegenwart untersucht und darstellt; es gab und gibt sie noch weltweit. Im Gegensatz zur üblichen Vorstellung ist keine von ihnen die bloße Umkehrung des Patriarchats. Stattdessen handelt es sich bei allen um geschlechter-egalitäre Gesellschaften, und die meisten sind vollständig egalitär, das heißt, sie haben keine Hierarchien oder Klassen und keine Herrschaft des einen Geschlechts über das andere. Jedoch bedeutet Gleichheit in matriarchalen Gesellschaften nicht eine Nivellierung aller Unterschiede. Die natürlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern und Generationen werden respektiert und geehrt, aber sie dienen nie dazu Hierarchien zu schaffen, wie es im Patriarchat üblich ist. Die verschiedenen Geschlechter und Generationen haben ihre je eigene Würde, und durch je eigene, aber komplementäre Aktionsbereiche kooperieren sie harmonisch miteinander. Das kann man auf allen gesellschaftlichen Ebenen sehen: auf der sozialen Ebene, der ökonomischen Ebene, der politischen Ebene und in den Bereichen ihres Weltbilds und Glaubens.

 

Es zeigt sich zunehmend, dass dieses radikal andere kulturelle Modell des Matriarchats große Bedeutung für die Zukunft der Frauen und Mütter und der Menschheit ganz allgemein hat. Deshalb werde ich hier Anregungen für neue mutter-zentrierte und egalitäre Gesellschaften geben um zu zeigen, wie neue matriarchale Gesellschaften aussehen könnten. Natürlich können wir keine traditionellen matriarchalen Gesellschaften imitieren, aber wir können durch sie viele Einsichten und Anstöße gewinnen, die – anders als abstrakte Utopien – über Jahrtausende existiert haben. Für alle, die neue matriarchale Muster verwirklichen wollen, können meine Anregungen der Ausgangspunkt sein. Denn es braucht eine klare Vision, die klare Leitgedanken gibt, um die daraus folgende Praxis wirksam und dauerhaft zu machen.

 

Auf der sozialen Ebene geht es darum, aus der weiteren Fragmentierung der Gesellschaft herauszukommen, welche die Menschen immer tiefer in Vereinzelung und Vereinsamung treibt und sie krank und destruktiv werden lässt. Denn das ist der Nährboden für Gewalt und Krieg. Es geht um die Bildung wahlverwandter Gemeinschaften verschiedener Art, seien diese nun Lebensgemeinschaften oder Nachbarschaftsgemeinschaften oder Netzwerke. Wahlverwandtschaft bildet sich aber nicht durch bloße Interessengemeinschaft, solche Gruppen entstehen und zerfallen schnell. Sondern Wahlverwandtschaft entsteht nur auf dem Boden einer spirituell-geistigen Übereinstimmung, durch sie wird ein symbolischer Clan gebildet, der mehr Verbindlichkeit hat als eine bloße Interessengruppe.

Das matriarchale Prinzip daran ist, dass solche wahlverwandten Clans grundsätzlich von Frauen initiiert, getragen und geleitet werden. Der Maßstab sind die Bedürfnisse von Frauen und Kindern, welche die Zukunft der Menschheit sind, und nicht die Macht- und Potenzwünsche von Männern. In die neuen Matri-Clans werden Männer hingegen vollgültig integriert, aber gemäß einem anderen Wertesystem, nämlich der Orientierung an gegenseitiger Fürsorge und Liebe statt an der Macht.

 

Auf der ökonomischen Ebene ist keine weitere Steigerung der Großindustrien, des zunehmenden Militarismus und des sog. „Lebensstandards“ mehr möglich auf Gefahr hin, die Biosphäre der Erde vollends zu zerstören. Hier öffnet sich als Alternative die Subsistenz-Perspektive als Wirtschaftsform der lokalen und regionalen Einheiten, welche die ökonomische Unabhängigkeit der Leute meint. Die Subsistenz-Einheiten  wirtschaften selbstgenügsam und unabhängig, wobei die Lebensqualität vor der Quantität unbedingten Vorrang hat.

Das bedeutet nicht, nur lokale Garten- und Ackerbau- Wirtschaft zu betreiben, sondern auch regionale Kommunikation, Handelsaktivitäten, Technologien und Künste zu pflegen. Sogar moderne “High Technology” kann auf regionaler Ebene produziert werden, wenn die Monopole der transnationalen Konzerne aufgehoben werden. Diese Konzerne versuchen, die Weltbevölkerung nicht nur von ihren Technologien abhängig zu machen, sondern sogar von Wasser und Nahrung, der Lebensgrundlage der Menschen, die sie monopolisieren. Das muss definitiv beendet werden!

Regionalisierung von Ackerbau, Handel, usw. zugunsten von Frauen und ihren Familien/Clans ist ein matriarchales Prinzip, denn sie sind die Trägerinnen des menschlichen Lebens auf der Erde.

 

Auf der Ebene der politischen Entscheidungsfindung ist das matriarchale Konsens-Prinzip für eine wirklich egalitäre Gesellschaft unverzichtbar. Es kann hier und jetzt, sofort und überall eingeübt werden. Denn es ist das impulsgebende Prinzip für matriarchale Gemeinschaftsbildung überhaupt. Es stellt die Balance zwischen Frauen und Männern her, aber auch zwischen den Generationen, denn sowohl die alten Menschen wie auch die Jugendlichen kommen dabei vollgültig zu Wort. Es ist zudem das eigentlich demokratische Prinzip, denn es löst ein, was die formale Demokratie verspricht, aber nicht hält.

Gemäß diesem Prinzip sind die kleinen Einheiten der neuen Matri-Clans die tatsächliche Entscheidungsträger. Alle erwähnten alternativen Bewegungen versuchen dieses Prinzip mehr oder weniger zu praktizieren, und sie haben dabei viel Erfahrung gewonnen. Um das Konsens-Prinzip in Zukunft zu etablieren, muss ein System von kleineren und größeren Räten entwickelt werden, die untereinander verknüpft sind, um Entscheidungen auf der gemeinschaftlichen, lokalen und regionalen Ebene zu treffen. Über die Region hinaus kann das Konsens-Prinzip nicht praktiziert werden, allerdings sind unabhängige, blühende Regionen das politische Ziel.

 

Auf der spirituell-kulturellen Ebene kommt man nicht umhin, sich von allen hierarchischen Religionen mit transzendentem Gottesbegriff und absolutem Wahrheitsanspruch zu verabschieden, welche die Welt, die Erde, die Menschen, insbesondere die Frauen, tief herabgewürdigt haben. Stattdessen geht es um eine neue Heiligung der Welt gemäß der matriarchalen Vorstellung, dass die ganze Welt mit allem, was darin und darauf ist, göttlich ist. Das führt dazu, die sichtbare Welt und das Leben auf eine kreative, freie Weise wieder zu ehren und zu feiern. Auf diese Weise kann matriarchale Spiritualität alles und jedes durchdringen und wird wieder ein normaler Teil aller Tage werden.

Siehe auch die Broschüre MATRIARCHALES MANIFESTA, erhältlich in der Akademie HAGIA: akademiehagia@aol.com

Lesen Sie mehr in:

Heide Göttner-Abendroth

Der Weg zu einer egalitären Gesellschaft.
Prinzipien und Praxis der Matriarchatspolitik

Drachen-Verlag 2008, zu beziehen bei Akademie HAGIA

Heide Göttner-Abendroth

Am Anfang die Mütter

Matriarchale Gesellschaft und Politik als Alternative,

Verlag Kohlhammer, Stuttgart, 2011